Ich glaube, der gefühlte Vorteil des MUSH läßt sich auf "keine Gruppe" reduzieren — man spielt zwar mit anderen, aber nicht in einer festgefügten Gruppe; dies ist sowohl für die Spielenden als auch für die Charaktere von Vorteil.
Für die Charaktere, weil die Spielenden nicht mehr das Charakterkonzept übergehen müssen, nur damit ihre Figur bei der Gruppe bleiben kann. Für die Spielenden, weil Aktionen einzelner die Gruppe nicht aufhalten. Für die Glaubwürdigkeit, die Immersion, die "
Suspension of Disbelief", weil man die Mitspielenden nicht sieht und schlicht nicht weiß, daß die zierliche Elfe vom bärtigen Hünen gespielt wird, oder ob die Bardame eine andere Spielerfigur (Hauptrolle!) oder nur eine doofe Statistin ist. Zudem ist die Kulisse üblicherweise schon auf dem Computer auf dem man sich trifft hinterlegt — der Bedarf an Spielleitung tritt so in den Hintergrund. Ohne Spielleitung gibt es aber auch kein "Nadelöhr", niemanden, der "alles mitbekommen muß." Aktionen können zudem quasi-synchron stattfinden und werden durch das Medium Text serialisiert.
Das Medium Text kann aber noch mehr; die Aktionen der eigenen Rolle können sorgsamer formuliert, ediert werden, bevor man sie in den Spielfluß übergibt. "Literarische" Posen oder Ritter-und-Hoffräulein-mäßige altenglische Liebesschwüre werden so leichter oder überhaupt erst möglich; frei formuliert werden die Sätze kürzer, weniger blumig, und, mangels Log, möglicherweise repetitiv — nicht das was man möchte, wenn man auf
larger than life steht.
Dadurch, daß die Gruppenaktion als kritischer Weg entfällt, können Szenen zudem ausreichend lang sein; eine Abkürzung oder Schwarzblende damit die Gruppe wieder gemeinsam agieren kann, ist nicht nötig. Dies wiederum macht "Kunstgriffe" wie Würfeln, Kartenlegen oder auch dramatisches Edieren unnötig; das ("dramatische") Ergebnis einer Szene erfährt man nur, indem man sie spielt.
In Bezug auf das 3fold model ist das eher simulationistisch, es werden nicht wie im Film die für Handlung und Spannungsbogen unwichtigen Teile abgeblendet. Dies führt zu authentischerem "role-playing" im Sinne des 5fold model ("method actor" in Robin Laws' Modell); der Method Actor ist gewissermassen ein Simulist des Charakters (nicht der Physik der Spielwelt). Der Spielstil ist also "DRASTIC" — diceless, rule-less and storyteller-less in character role-playing.
Und dann sind da die "
in character"-Beziehungen. Im Rollenspiel kann ich die Artistin sein, die nachts mit ein paar Kerzen und ihrem Liebsten erste intime Gespräche ganz oben unter der dunklen Manegenkuppel führt, ich kann der Star sein und ohne Reservierung ins Nobelrestaurant einladen, oder ohne einen Gedanken zu verschwenden 2ooo langstielige Rosen in das Studio einer "Freundin" kippen lassen (
"We never ever argue, we never calculate the currency we've spent..."
). Und insbesondere kann ich diese drei Dinge an drei aufeinanderfolgenden Tagen tun — ohne, daß dem Charakter die Arbeit dazwischen kommt, die Frisur zusammenfällt, oder das Geld ausgeht. Und das alles kann ich haben, obwohl ich dusseligerweise nicht meine ganze Kindheit als hochbegabte geheime Prinzessin am Trapez zugebracht habe. Und niemals ist der Nobelkellner mürrisch, niemals sind die Rosen aus, niemals liegt die Manege voller Elephantendung.
Im MUSH habe ich keine Spielgruppe, und daher kein Problem: Eine Szene kann so romantisch, lang, oder lüstern sein wie sie will; gelangweilte, peinlich berührte, angeturnte oder doof kommentierende Zuschauer gibt es ja nicht. Bei Pen + Paper würden mir vermutlich nicht nur Stimmung und Intimität, sondern vor allem die
Spotlight time fehlen, um eine Beziehung in einer Weise die ich für angemessen halte, darzustellen.
Im MUSH sehe ich dabei nur noch den Charakter, nicht den Charakter und den Spieler; höre weder
OOC-Kommentare noch Chipstütengeknister (sondern stimmungsvolle Musik — also Musik, die ich für perfekt halte, nicht den kleinsten gemeinsamen Nenner einer Gruppe). Ich kann das ad hoc einer Pen + Paper-Sitzung mit dem sprachlichen Anspruch eines Theaterstücks verbinden, und das nicht nur bei Zwischenmenschlichem — so muß ich nicht befürchten, daß mein Charakter sich in seinem Fachgebiet eine Blöße gibt, denn
Ich, Azundris mit Google, habe das Wissen!
Bei Pen + Paper müßte ich mir hingegen Chipsgeknister und Mitspielende weg, gute Musik und passende Beleuchtung dazu denken (zusätzlich zu dem üblichen Zeug — Charaktere, Setting, usw.), abhängig vom eigenen Anspruch und der Schlagfertigkeit der Mitwirkenden so tun, als wäre das Gestammel der anderen Partei umwerfend sexy, und während ich diese herkulische Geistesleistung vollbringe, soll ich mich gleichzeitig in meinen Charakter fallen lassen?
Gehen wird das wohl, aber — ist der erste Fall nicht irgendwie
einfacher..?
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