FCs erben aus ihrer Vorlage, dem Buch, dem Film, dem Comic, ein Netz von Bekannten, Verbündeten, Feinden, und Liebhabern. Ob es für diese im MUSH dann tatsächlich Spieler gibt — und ob es mit diesen dann auch "Chemie" gibt — ist eine Glücksfrage. Im schlimmsten Fall spielt man "zwangsweise" mit Spielenden, mit denen man eigentlich keinen Spaß hat — weil es der Kanon will. (Dies ist eine Variante des
bereits beschriebenen "Ich spiele mit dem, weil mein IC Vorgesetzer es befiehlt".)
Mit anderen Worten, eine FC-Rolle mag garantieren, daß die eigene Rolle in ein Geflecht toller Charaktere eingebettet ist; ein Geflecht toller Rollenspieler garantiert sie hingegen nicht. Wenn man sich diesen Unterschied nicht klar macht, kann der Traum schnell zum Albtraum werden.
Ein anderes Problem ist, daß viele Vorlagen sich auf einen oder wenige Protagonisten konzentrieren, die dann aber im Leben von allen (Neben-) Figuren die sie treffen einen wichtigen Unterschied machen. Diese Nebenfiguren müssen dann die Spielzeit der Hauptfigur unter sich aufteilen; die Hauptrolle wird dann zum Flaschenhals:
"Batman skaliert wie Scheiße."
Besonders problematisch sind Vorlagen, die nur in Teilen übernommen werden. Die Vorstellungen davon, was "Kanon" sein soll, unterscheiden sich naturgemäß.
Eine besondere Ausprägung sind hier Universen, die nicht auf abgeschlossenen Werken beruhen, sondern auf Buchreihen, Serien oder Comics, von denen noch Teile, Folgen oder Ausgaben erscheinen. Hier gibt es üblicherweise einen
"cut off"
, einen Punkt, ab dem weitere eigentlich kanonische Werke ignoriert werden. Die Vergangenheit, alles vor dem ersten Rollenspiel, stammt aus dem Kanon, alles weitere hingegen aus dem Spiel. Hier kündigt sich bereits an, daß einem ein FC nie wirklich ganz gehört — einem gehört eine Hälfte, die Inkarnation im MUSH, den Originalautoren gehört die andere. (Und das sind nur die zwei, über die von den Spielenden vermutlich geredet wird, tatsächlich gibt es noch mehr, in anderen MUSHes, anderen Spielrunden, in
fan fiction
, in nicht kanonischen Werken.) Es gehört einem nicht die Figur, und nicht die Rolle — es "gehört" einem das
Fragment einer Rolle: Legt man die Rolle je nieder, so gehört einem nicht einmal mehr diese Instanz der Figur — jemand anderes kann sie aufgreifen und völlig anders interpretieren.
Wobei "völlig anders" wiederum mit Vorsicht zu genießen ist — korrekter wäre somit "mißliebig" — denn beim Spielen von FCs ist man ja durchaus in seiner Kreativität eingeschränkt: FCs sind den anderen Spielenden üblicherweise bereits vor dem Spiel bekannt. Dies führt zum einen manchmal zu einem gewissen Desinteresse — so schauen sich die Spieler selten die Beschreibung ("desc") eines FCs an — man weiß ja, wie er aussieht —; bei anderen Charakteren ist die
desc
hingegen der erste Eindruck, die Visitenkarte, die sogar darüber entscheiden mag, ob andere mit einem spielen. Zum anderen führt es aber zu Erwartungshaltungen. Klar, man liebt ja die Vorlage dafür, daß sie so ist wie sie ist, da wäre es ja doof, wenn alle FCs plötzlich anders wären, als man sie kennt und liebt. Während es MUSHes gibt, wo tatsächlich die Originalwerke
nachgespielt werden, sollen üblicherweise mit bekannten Figuren neue Geschichten geschaffen werden. Dazu müssen die Figuren aber zum Teil neue Wege gehen, und wie immer ist diskutabel, ob diese angemessen sind, und zu radikale Brüche, selbst wenn es solche in der Vorlage geben mag, sind oft tabu. Oft haben verschiedene fans unterschiedliche Vorstellungen über einen FC, so wie auch verschiedene Autoren (bei Serien oder Comics) sie haben.
Überhaupt, die Autoren. Wenn die Autoren einen bestehenden FC auf eine Art einsetzen, die nicht zu ihm passt, wenn sie neue FCs erschaffen, die so übermächtig oder albern sind, daß man sie als "OC" (
Original Character
, eine nicht aus der Vorlage stammende, sondern von den Spielenden erschaffene Rolle) niemals zulassen würde, dann kann man erst einmal wenig tun — Kanon ist Kanon. Somit gelten für Autoren und Spielende unterschiedliche Maßstäbe — die Anforderungen an letzte sind höher, was im Umkehrschluß zu einer Einschränkung ihrer kreativen Freiheit führt — manchmal zum Guten, manchmal zum Schlechten.
In der Summe kann ein FC eine sehr undankbare Sache sein — man muß viel Vorarbeit/Recherche leisten, ist in seiner Handlungsfreiheit eingeschränkt — sowohl in Bezug auf Pläne als auch auf die Leute, mit denen man spielen wird —, muß die eigene Interpretation gegebenenfalls gegen die anderer verteidigen, und kann die Figur nie wirklich zur eigenen machen, kann sie nicht einmal sinnvoll aufs Altenteil bzw. die Bahamas schicken, wenn man sie niederlegt.
Die Autorin spielt seit 18 Monaten eine FC-Rolle in einem MUSH.